Eines Abends, als ich meiner Frau, die schon im Bett lag, einen Gute-Nacht-Kuss geben wollte, merkte ich, dass sie etwas bedrückte. Sie hatte traurige Augen und wirkte sehr ruhig. „Hast Du etwas?“, fragte ich sie. „Ich bin irgendwie traurig, keine Ahnung, warum. Ich kann nicht schlafen, bitte erzähle mir ein Märchen!“ „Hm“, entgegnete ich, „was möchtest Du denn für ein Märchen hören?“ „Eines mit einer Fee, und einem Wolf, mit einem Wald und einer Wiese, und mit einer Hexe.“ „Na, da muss ich mal überlegen...“, entgegnete ich, legte mich neben sie und fing an zu erzählen, was mir gerade in den Kopf kam:
„Es war einmal, vor langer, langer Zeit, als es noch keine großen Städte gab und die Wälder tief und grün waren, eine kleine Fee, die in einem dieser großen Wälder wohnte. Die Fee spielte jeden Tag auf einer Wiese am Bach mit ihren Feenfreundinnen. Es war eine der schönsten Wiesen, die man sich vorstellen konnte. Blumen in allen Farben und mit großer Pracht streckten sich empor, Schmetterlinge flogen lustig umher und manchmal setzte sich einer frech auf die Nase der kleinen Fee. Dazu sangen die Vögel die schönsten Lieder. Die Freundinnen der kleinen Fee waren schon älter und konnten bereits zaubern. Sie selbst war noch sehr jung und hatte das Zaubern noch nicht gelernt. Die anderen Feen machten sich deshalb oft lustig über sie und spotteten manchmal ein wenig. Die kleine Fee ließ sich aber nichts anmerken und spielte immer wieder mit ihnen. Doch eines Tages, als die anderen Feen sich wieder die schönsten Geschichten zusammenzauberten, stand die kleine Fee traurig daneben und wünschte sich so sehr, auch zaubern zu können, wenigstens ein ganz kleines bisschen. Die anderen Feen waren so beschäftigt, dass sich keine die Zeit nahm, der kleinen Fee das Zaubern beizubringen, so dass sie irgendwann einfach die bunte Feenwiese verließ und in den tiefen Wald lief. Es wurde dunkel und die kleine Fee bekam etwas Angst. In ihrer Eile hatte sie sich den Weg nicht gemerkt. Sie lief weiter und weiter und fing auch schon ein wenig an zu weinen. Dann sah sie ein Licht und lief, so schnell sie konnte, darauf zu. Schüchtern schaute sie durch das Fenster. Drinnen sah sie eine wunderschöne Frau, die gerade etwas Holz auf den Kamin legte. Zaghaft klopfte sie an die Tür. ,Komm’ rein,‘ sagte die Frau, ,ich weiß, dass Du kommst!‘ Langsam betrat die kleine Fee das Haus. Es war klein und wirkte in dem dunklen Wald etwas einsam. Die Frau war wirklich wunderschön, so dass die kleine Fee sie etwas beneidete. Nur etwas in ihrem Gesicht ließ die kleine Fee ein wenig erschrecken. Trotz der Wärme in dem kleinen Zimmerchen wirkten ihre Augen kalt. ,Du möchtest also zaubern lernen!‘, bemerkte die Frau. ,Woher weißt Du das?‘, fragte die Fee. ,Ich habe es in meinem Kamin gesehen. Von hier kann ich den ganzen Wald überblicken und sehen, was jeder tut. Deine Spielkameradinnen waren sehr böse zu Dir! Wollen wir sie bestrafen?‘ Der kleinen Fee war nicht wohl bei dem Gedanken. ,Ich kann Dir das Zaubern beibringen‘, sagte die Frau. ,Ich weiß, was in Dir vorgeht. Früher wurde ich auch oft ausgelacht. Irgendwann habe ich das Zaubern gelernt.‘ Nun horchte die kleine Fee auf. ,Wie zaubert man?‘, wollte sie wissen, aber die Frau war in ihren Gedanken und sprach weiter, als wäre die kleine Fee gar nicht dort. ,Als erstes zauberte ich mir eine Maske, so dass niemand meine Tränen sehen konnte. Ich setzte sie jedes Mal auf, wenn mir Menschen zu nahe kamen. Irgendwann war die Maske so fest auf meinem Gesicht, dass ich sie immer seltener herunternehmen konnte. Dann fing ich an, die Menschen zu verzaubern. Erst lockte ich sie an, und zeigte ihnen alle Schönheiten die ich bieten konnte. Doch dann verwandelte ich sie und brach ihnen ihr Herz und nahm ihnen ihren Stolz.‘ Die kleine Fee wurde traurig bei diesen Worten. ,Warum möchtest Du den Menschen das Herz brechen?‘ ,Weil es mir Spaß macht!‘, sagte die Frau. ,Ich bin eine Hexe, weißt Du? Hexen tun so etwas, zumindest hat man mir das so gesagt. Und nun mache ich es so.‘ ,Aber‘, sagte die Fee, ,was ist denn mit den Menschen? Sie sind doch traurig!‘ ,Nein,‘ sagte die Frau, und lachte böse, sie sind nicht traurig. Sie sind froh, dass ich ihnen ihre Gefühle nehme. Sie werden irgendwann wie ich.‘ ,Aber das ist doch nicht schön, wenn man in einer Welt leben muss, in der es keine Gefühle gibt!‘ sagte die Fee. ,Tust du das, weil Du Deine Maske aufgesetzt hast?‘ ,Vielleicht...‘, sagte die Frau, und war gar nicht mehr freundlich. ,Weißt Du eigentlich noch, wie Du unter dieser Maske aussiehst?‘, fragte die Fee weiter. Die Frau wurde noch etwas böser und meinte schließlich, dass die kleine Fee ihrer Wege gehen solle. Die Fee ging hinaus, und die Frau rief ihr hinterher: ,So wirst Du nie das Zaubern lernen! Du bist zu schwach, verstehst Du? Zu schwach!!!‘ Die kleine Fee dachte sich, dass sie es vielleicht gar nicht mehr wollte, wenn sie dadurch anderen die Herzen brechen würde.“
Hier unterbrach ich meine Geschichte und schaute zu meiner Frau. Sie hielt die Augen geschlossen und regte sich nicht. Als ich langsam aufstehen wollte, fragte sie mich, warum ich nicht weiter erzählen würde. „Aber Du hast doch schon geschlafen...“, entgegnete ich. „Nein, ich höre zu! Die kleine Fee steht vor dem Haus der Hexe und nun? Ich will wissen, was sie nun macht!“ Ja, dachte ich, das will ich auch wissen. Ich lehnte mich zurück und erzählte weiter:
„Nun stand die kleine Fee wieder im Wald und wusste nicht wohin. Plötz- lich hörte sie ein fürchterliches Krachen neben sich, danach ein Heulen und einen Schrei, der ihr durch alle Glieder fuhr. Sie sah furchterregende Zähne und weit aufgerissene Augen. Als sie sich vom Schrecken ein wenig erholt hatte, sah sie, dass ein Wolf vor ihr stand. Er fletschte die Zähne und sah bedrohlich aus. Die kleine Fee hatte fürchterliche Angst und wäre am liebsten versteinert. Sie nahm allen Mut zusammen und fragte: ,Was ist mit Dir? Warum jagst Du mir so einen Schrecken ein? Warum machst Du so ein böses Gesicht und fletschst die Zähne?‘ Der Wolf sagte eine Weile nichts und starrte auf die Fee. Schließlich meinte er: ,Nicht nur Du hast Dich erschreckt, auch ich hatte Angst. Und wenn ich Angst habe, schreie ich eben. Viele Jahre laufe ich schon allein durch den Wald. Deshalb weiß ich nicht, was ich tun soll, wenn mir jemand begegnet. Oft hatten alle Angst vor mir und erschraken sich. Niemand mochte mich, und irgendwann stahl mir eine Hexe das Herz.‘ Die Fee wurde traurig und ging einen ganz kleinen Schritt auf den Wolf zu. Der Wolf ging einen noch kleineren Schritt zurück, blieb aber schließlich stehen. Die Fee ging weiter auf den Wolf zu und legte ganz vorsichtig ihren Arm um seinen Hals. So blieben sie eine Weile stehen. ,Was machst Du eigentlich hier im Wald?‘ fragte der Wolf. ,Ich bin weggelaufen weil ich das Zaubern nicht lernte und so nicht mit den anderen Feen spielen kann.‘ ,Ja‘, sagte der Wolf ,ich bin auch weggelaufen, und ich lief und lief und habe selten angehalten. Und wenn ich einmal rastete, dann nur ganz kurz, aber ich habe mit niemanden geredet. Du bist die erste, mit der ich seit langer Zeit spreche.‘ ,Ich fühle mich allein im Wald ohne die anderen‘, sagte die kleine Fee. Daraufhin entgegnete der Wolf: ,Ich fühle mich auch sehr einsam‘. Die Fee schluchzte: ,Und ich werde nie das Zaubern lernen‘, und drückte sich dabei noch etwas enger an den Wolf. ,Ich glaube, Du hast es gerade gelernt...‘, sagte der Wolf. Die Fee sah ihn verwundert an, und sah, wie ihm eine Träne übers Gesicht lief. ,Siehst Du‘, sagte er,
,Du hast mir gerade mein Herz zurückgegeben.‘ Sie saßen noch die ganze Nacht so, erzählten, lachten viel, und weinten manchmal. Dann brachte er die Fee auf ihre Wiese zurück. Nun konnte sie zaubern, zusammen mit den anderen. Oft noch kam der Wolf auf die Wiese um sich lange mit der Fee zu unterhalten.“
Als ich diese Geschichte beendet hatte und selber etwas müde war, lag meine Frau still neben mir, hatte ein zufriedenes Gesicht und grunzte ein wenig. Sie schlief fest und ich glaube, dass ich an diesem Abend auch ein wenig gezaubert habe...
Audio: "Die kleine Fee" aus dem Band "Die Begegnung mit dem Geschichtenerzähler"
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